Kosmos einer katholischen Provinz
Für das Schauspiel ist Dantes „Göttliche Komödie“ ein Leitstern. Das Opfer-Thema zieht sich quer durch die Festspiele. Insbesondere die Frau als Opfer respektive das Opfer der Frauen, wie Schauspiel-Chefin Bettina Hering festhält. Als Co-Produktion mit dem Wiener Burgtheater inszeniert der belgische Regisseur Ivo van Hove das Stück „Ingolstadt“ der deutschen Autorin Marieluise Fleißer.

Die bayrische Schriftstellerin, die heute als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts gilt, wurde jahrzehntelang nicht gebührend beachtet. Dabei wurde sie von Lion Feuchtwanger gefördert, von Bertolt Brecht verehrt und fast zerstört, Ödön von Horváth lernte von ihr, und eine ganze Generation deutscher Nachkriegsdramatiker stand unter ihrem Einfluss, etwa Franz Xaver Kroetz oder Rainer Werner Fassbinder.

Die 1974 verstorbene Schriftstellerin lebte das zermürbende Leben einer doppelten Außenseiterin: Als Künstlerin der Avantgarde ihrer kleinbürgerlichen Familie und katholischen bayrischen Heimat entfremdet, im männlich dominierten Literaturbetrieb auch nur eine Randfigur. Hinzu kamen die Repressionen des Dritten Reichs. Fleißers Träume von Freiheit und einem schöpferischen Leben verkehren sich in ihrer Prosa ins Negative.

Mit ihrem „Röntgenblick“ legt sie Kräfte bloß, die am häufigsten zur Ausbeutung der Frauen führen. „Ihr Stil ist unverwechselbar, beschreibt sie doch eiskalt, aber mit warmem Herzen das Schlechte im Menschen“, erzählt Ivo van Hove. Er fügt ihre beiden Texte „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ zu einem Stück zusammen. Die bayrische Provinzstadt, in der Fleißer mehr oder weniger ihr Leben verbrachte ist für ihn eine Metapher für alles Schlechte im Menschen.

Zwei Machtstrukturen gibt es in diesem Städtchen, die Kirche und die Armee, die von Hierarchien bestimmt sind. Fleißer seziert in ihren Texten das Kleinbürgerliche und Provinzielle aus der Sicht einer jungen, „verlorenen“ Nachkriegsgeneration. Zwei Jahre vor ihrem Tod sagte Marieluise Fleißer in einem Interview: „Die Welt wird nie gut.“ Besetzt ist die Inszenierung auf der Perner-Insel mit Jan Bülow, Marie-Louise Stockinger und Lilith Häßle.
TV-Bericht: Susanna Schwarzer