Ein mutiger Überlebenskampf
Es ist eine ergreifende und ungeschönte Geschichte, die die ungarische Schriftstellerin Ágota Kristóf in ihrem Roman „Das große Heft“ protokolliert. Darin zeichnet sie das Schicksal zweier heranwachsender Zwillingsbrüder, die während des Krieges von ihrer Mutter aufs Land zur Großmutter gebracht werden. Ohne jeden Schutz sind sie auf sich allein gestellt, sie betteln, hungern, schlachten, stehlen, töten, stellen sich taub, blind und bewegungslos. Die Kinder lernen rasch, was es zum Überleben braucht.
Der Krieg, die Flucht und ihre Folgen waren ihr Lebensthema; die Entwurzelung, die Einsamkeit und Grausamkeit nahm Ágota Kristóf mit in ihrem Gepäck. Nach dem antisowjetischen Ungarn-Aufstand von 1956 flüchtete die damals 21-Jährige mit ihrem ebenfalls oppositionellen Ehemann, Vater ihrer damals vier Monate alten Tochter Zsuzsa. Ihr Ziel: die Schweiz, die Romandie. Ihre ersten literarischen Arbeiten in der Fremde bleiben bloß poetische Versuche in ihrer Muttersprache. Erst später eignet sie sich die „Feindessprache“ an, wie sie sagte, weil sie als Autorin genau wusste, dass sie das Französische nie mit annähernder Perfektion beherrschen würde, wie das Ungarische - und zugleich, weil das fremde Idiom allmählich ihre Muttersprache tötete.
Fast sprachlos zu sein, sich auf das Wesentliche beschränken zu müssen – war ihr großes Unglück. Für ihre Leserschaft war es das große Glück. Kristóf hatte die 50 schon überschritten, als ihr erster Roman erschien; es sollte gleich ihr bestechendster, wahrhaftigster und brutalster sein, denn er brachte all das zur größten Geltung, was Kristóf als Erzählerin auszeichnete.
Die deutsche Regisseurin Jacqueline Kornmüller, die sich hierzulande mit ihren interdisziplinären und interkulturellen Projekten wie der Ganymed Serie einen Namen machte, wusste schon 1986 beim Erscheinen des Romans, dass sie diesen außergewöhnlichen Text irgendwann auf die Bühne bringen würde.
Sie hat den Stoff adaptiert und die kubanischen Zwillingsschwestern Miriam und Mercedes Varga, die schon seit den 1990er Jahren Teil des Serapionstheaters sind für die Hauptrollen entdeckt. Eine ideale Besetzung für Kornmüller, weist ihre Biografie doch deutliche Parallelen zu der berührenden Geschichte auf.
Über das Antikriegsstück, über Flucht und Entwurzelung spricht Clarissa Stadler mit Jacqueline Kornmüller live im Studio.
TV-Beitrag: Julia Fellerer