Kloputzen als Alltagskultur
Pulsierend, laut und schrill oder kontemplativ, meditativ und spirituell. Im Land der Kirschblüten ist Tokio eine Stadt der vielen Gesichter, ein Ort der Kontraste. Hier trifft Hightech und moderner Lifestyle auf Jahrtausende alte Tradition. Laut der „World Urbanization Prospects“ der UN ist Tokio, mit einer Einwohnerzahl von rund 37 Millionen Menschen die größte Stadt der Welt. Japans Hauptstadt zählt neben New York und London auch zu den drei wichtigsten Handelszentren der Welt, haben doch viele große Automobilhersteller, wie Honda oder Toyota in Tokio ihren Sitz. Rund ein Viertel der japanischen Bevölkerung wohnt hier auf knapp vier Prozent der Landesfläche. Augenscheinlich wird das, wenn man während der Rushhour U-Bahn fährt, haben sich doch in der Stadt rund 800.000 Unternehmen angesiedelt.
In diese pulsierende, aber wenig chaotische Metropole zwischen Kirschblüten und Kaiserpalast, Geisha-Tradition und Manga-Hype, Shinto-Schreinen und Hochhausschluchten hat sich der deutsche Regisseur Wim Wenders schon Mitte der 1980er Jahre verliebt. Den in Düsseldorf und Oberhausen im Ruhrpott aufgewachsene Filmemacher hat es schon früh in die Ferne gezogen. Seine Faszination für das Leben im Land der aufgehenden Sonne rührt vor allem auch von seiner Liebe zu den Filmen des japanischen Kult-Regisseurs Yasujirō Ozu. Sie war es, die Wenders im Frühjahr 1983 nach Tokio aufbrechen ließ. Dort begab er sich auf die Spuren Ozus.
Er versuchte, diesem Japan, das Ozu ihm gezeigt hatte, nachzuspüren. Aus dieser Reise entstand die Dokumentation „Tokyo-Ga“, die Wenders selbst als eine Art filmisches Tagebuch bezeichnet – oder, in Anlehnung an den berühmtesten Film Ozus, als seine „Reise nach Tokyo“. Mit äußerst sparsamen Mitteln, auf das allernotwendigste reduziert erzählen Ozus Filme einfache Geschichten von einfachen Menschen dieser Stadt. Das heute so angesagte Prinzip der Achtsamkeit und seine Ästhetik auf „Augenhöhe“ sind exemplarisch für sein Werk.
„So japanisch diese Filme auch sind, so allgemeingültig sind sie zur gleichen Zeit“, ist Wim Wenders überzeugt. Er erkannte darin alle Familien in aller Welt wieder. Diesem fernöstlichen Meister setzt der 78-jährige Deutsche jetzt auch in seinem neuen Spielfilm ein Denkmal. „Perfect Days“ ist ein poetisches Porträt eines Mannes, das aus dem kleinsten das Größte erzählt. Schon bei der Premiere in Cannes hat sich die internationale Presse mit hymnischen Kritiken überschlagen, etwa sei es sein bester Spielfilm seit 30 Jahren. Für das kleine Filmjuwel über einen Toilettenreiniger in Tokyo wurde Hauptdarsteller Koji Yakusho in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet und „Perfect Days“ geht im kommenden Jahr für Japan ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film.
Es ist eine gänzlich unaufgeregte Geschichte, schildert Wenders doch darin den Alltag des reiferen Hirayama, der ein ebenso einfaches wie strukturiertes Leben in Tokio führt. Sein tägliches Einerlei ist dabei geprägt von kleinen Ritualen, von einem analogen Zugang zur Welt, wenn er auf dem Weg zur Arbeit seine liebsten US-Songs noch auf Kassette hört und in der Mittagspause das Schattenspiel der Bäume mit einer Kamera fotografiert. Vielmehr ist es nicht und dennoch eröffnet Wenders damit ganze Welten.
Auf die für die westliche Wertegesellschaft eher skurrile Idee, einen Kloputzer zum Protagonisten zu machen, kam Wenders durch eine Bitte der japanischen Regierung. Er sollte anlässlich der Olympischen Spiele, eine Kurzdoku über ein Projekt zu drehen, bei dem Stararchitekten 17 öffentliche Toiletten im Tokioter Inbezirk Shibuya gestalteten. Denn in der japanischen Kultur sind öffentliche Sanitäranlagen Teil der Alltagskultur. Der Begriff Dienstleistung hat im fernen Osten nichts mit einer minderwertigen Arbeit zu tun, sondern dient dem Gemeinwohl und ist vielmehr eine spirituelle Haltung.
TV-Beitrag: Tiziana Aricò